Der weiträumige, aus der Sicht des Städtebaus außergewöhnlich wertvolle Komplex von Stadthäusern stellt das größte Bauunternehmen der Gemeinde Lipník nad Bečvou in der Zwischenkriegszeit dar. Das kühne Bauprogramm, das Räume fürs Wohnen, Geschäfte, Behörden und Dienstleistungen (Postamt, Sparkasse, Bestattungsinstitut) umfasste, verlangte eine komplizierte Dispositionslösung sowie die nahezu volle Bebauung der Parzellenfläche. Trotzdem wirkt der Block dank sinnreicher Massenformung und Fassadengliederung nicht überdimensioniert.
Die Gemeinde Lipník schritt zum ehrgeizigen Bau trotz der laufenden Wirtschaftskrise und ansteigenden Arbeitslosigkeit mit der Absicht, ihren Behörden ein repräsentatives Umfeld zu leisten, neue Geschäftsräume zu schaffen, moderne Wohnungen für Militärgagisten zu gewähren, aber auch den lokalen Arbeitern und Gewerbetreibenden, die schwerlich Aufträge fanden, eine Arbeitsgelegenheit zu bieten. Das Projekt wurde dem Brünner Architekten Bohumír F. A. Čermák anvertraut. Das scharf verfolgte und schließlich politisierte Vorhaben wurde durch Kontroversen, Konflikte und sogar ein Gerichtsverfahren begleitet, und zwar sowohl wegen Verhältnismäßigkeit des Bauprogrammes, als auch (und besonders) wegen des Budgets und der Ausschreibung des Bauauftragnehmers, weil anstelle lokaler Unternehmen eine Brünner Firma ausgewählt wurde; es wurde sogar die Kompetenz des Architekten selbst in Frage gestellt. Mit Čermáks Verteidigung trug zur Beruhigung der verschärften Diskussion schließlich auch der Fabrikant und Baureferent der Gemeinde František Wawerka bei, der über das Feld der Architektur einen hervorragenden Überblick hatte, wie seine eigene zu Ende der 1930er Jahre gebaute Villa vom Ehepaar Oehler bezeugt, die für die meist leuchtende Umsetzung im Lipník der Zwischenkriegszeit gehalten wird. Für den Komplex von drei Mehrzweckhäusern wurde das leicht abfallende Eckgrundstück konischer Gestalt vorgesehen, das durch die Straßen Novosady und 28. října am Rande des historischen Stadtkerns, in der Nachbarschaft der St.-Josef-Kapelle, umschlossen war. Der großartige Komplex sollte also im Kontakt zur zierlichen Reihenbebauung der Bürgerhäuser und in Konfrontation mit der solitären Frühbarockkapelle stehen, er fungierte jedoch auch als point-de-vue wichtiger Fernverkehrswege, die auf der Freifläche vor ihm zusammenliefen und um die herum eine neue „Großstadt“- Bebauung angenommen wurde. Im südlichen und westlichen Teil des Komplexes reagierte der Architekt auf die Situation durch unregelmäßige Abnahme und Zugabe von Masse sowie dynamische, bis zu expressive die Straßenkurve umschreibende Verkröpfung und Biegung des Grundrisses, um einen monumentalen Maßstab dieses sechsstöckigen Gebäudes vorzubeugen. Die gewählte Durchführungsweise der „ausladenden“ Gestaltung der Baumasse erinnert an die Projekte von Čermáks Brünner Kollegen Ernst Wiesner, besonders an den Palast Morava in Brünn (1926–1933) und das spätere Post- und Telegrafamt in Šumperk/Mährisch Schönberg (1935–1937). Die Abnahme und Verkröpfung der Masse hatte jedoch nicht nur ästhetische und städtebauliche Begründung, sondern sie waren vor allem funktionsfähig, denn sie ermöglichten es die Innenräume besser zu beleuchten. Die Nordfront zur Straße 28. října, die an die historische Bebauung anknüpfte, hielt im Gegenteil die gerade Straßenlinie strikt ein und verzichtete auf jegliche dramatische Plastizität; zum Träger des Ausdrucks wurden hier Flächen-Sprossfenster und vertikale verglaste Streifen, welche die Räumlichkeiten des Postamtes beleuchteten, der dort seinen Eintritt hatte. Der Eintritt in die Sparkasse war in die Ecke gerichtet, während sich die Eintritte in die Bestattungsanstalt und zu den Wohnungen in der Südfront befanden, die darüber hinaus durch zwei Loggien-Gruppen auf der Ebene der Wohngeschosse, zwei Garagen und den Durchgang in den Innenblock gegliedert waren. Dank dieser zweckmäßigen Verteilung und den selbstständigen Eintritten störten sich die einzelnen Betriebe gegenseitig nicht. Die Häuser mit ausgemauertem Stahlbetonskelett waren mit schlichtem glatten Brizolit-Verputz ummantelt, der nur ab und zu (im Bereich der Sparkasse) durch Verkleidung aus Ziegelstreifen ergänzt war, um den Postamtteil herum befand sich dann noch eine flache unauffällige „Rahmung“ von Glasstreifen, die durch ihre Höhe an das benachbarte historische Haus anknüpfte. Die Rolle des „Hauptornaments“ der Fassade spielten die Fenster von unterschiedlichen Größen und Gliederung sowie ihre markante karminrote Farbigkeit, die auch bei der Auslagerrahmung und bei den Türen und Toren im Parterre Anwendung fand. Das Haus steht seit 1997 unter Denkmalschutz und blieb in seiner Grundauffassung unverändert. Mit Vergnügen beobachten wir die vor kurzem durchgeführte Erneuerung des Parterres, die sich außer der neuen Verglasung, Füllungen aus Milchglas und Wiederherstellung der roten Farbigkeit der Rahmen durch dezente Aufschriften in beinahe authentischer typographischer Bearbeitung auszeichnet. AW (Übersetzung HJM)
Literaturauswahl
Lubor Lacina, Akad. arch. inž. Bohumír F. A. Čermák, Architektura ČSR 21, 1962, Nr. 1, S. 42. Bohumír Čermák, Nový Lipník nad Bečvou, in: Karel Žůrek, Lipník nad Bečvou, město a okres, Lipník nad Bečvou 1933, S. 107–108. Quellen https://pamatkovykatalog.cz/posta-22019862 Martina Straková, Dílo architekta Bohumíra Čermáka. 1882–1961 (Diplomarbeit), Seminar für Kunstgeschichte, Brno 2002.